Maria, die Erdbeere und die Speise der Seligen

Einer alten Tradition folgend soll am 2. Juli mit der Erdbeerernte begonnen werden. Denn als Maria sich auf den Weg zu ihrer Cousine Elisabet machte, wurde sie durstig. Am Waldesrand entdeckte sie Erdbeeren und pflückte sie. Seitdem, so will es die Legende, ist die Gottesmutter jedes Jahr an diesem Tag im Wald anzutreffen. Dort sammelt sie Erdbeeren für die früh verstorbenen Kinder. Diese stehen im Himmel unter ihrem ganz besonderen Schutz.

Ursprünglich war der 2. Juli der Tag, an dem die Christen des Besuches der schwangeren Maria bei ihrer Verwandten gedachten. So wird dieser Tag Mariä Heimsuchung genannt, wobei Heimsuchung das alte Wort für „Besuch“ ist. Elisabet selbst war gerade schwanger, und zwar mit Johannes, der später den Heiland im Jordan taufen würde. „Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes“, begrüßt sie Maria. Zwar wurde dieser Tag später auf den 31. Mai verlegt, aber das Gedenken an diesen Tag ist noch lebendig.

Die beiden schwangeren Frauen, die sich treffen – ein Bild, das gut in die Krebs-Zeit passt, die seit der Sommersonnenwende herrscht. Im Inneren der Mutter bereitet sich das neue Leben auf seine Geburt vor. Es muss beschützt werden. Wir ahnen, dass hier das Mütterliche in seiner fruchtbringenden, fruchtbaren Gestalt geehrt wird. Und da passt die Erdbeere als Frucht sehr gut dazu.

Die Erdbeere, so viel steht fest, gehörte sicher schon zu Zeiten der Jäger und Sammler zum Speiseplan der Menschen. Sie ist darüberhinaus in der Antike die Pflanze der Liebesgöttinnen, wie der römischen Venus oder der nordischen Frigg. Von letzterer erzählt man sich, dass als Göttermutter unterwegs war wie Maria und verstorbene, unschuldige Kinder in Erdbeeren versteckte, um sie dann heimlich nach Walhalla zu bringen. Vielleicht das mythische Vorbild für die Mariengeschichte.

Zugleich wird sie oft mit Sexualität, mit Sinnlichkeit und Erotik assoziiert. Sie ist daher auf der anderen Seite Symbol der Verlockung durch die Sünde in der christlichen Symbolkunde. Hieronymus Bosch stellte sie daher in seinem berühmten „Garten der Lüste“ als Zeichen der Eitelkeit und Vergänglichkeit der Welt, als Lust an der Welt, ins Bild: Die Menschen, die sie verzehren, verwandeln sich in Bestien … Diese Lüste verlocken uns, aber sie machen ebenso wenig satt wie die Früchte der Erdbeere, so die Botschaft.

Erstaunlicherweise taucht sie aber auch besonders häufig als Pflanze Mariens auf und wird dann mit ihrer Jungfräulichkeit und der göttlichen Liebe verbunden, die durch uns durch die Gottesmutter erreicht. Eine widersprüchliche Pflanze also – sie verkörpert Verdammnis und Seelenheil zugleich. Aber war dies nicht auch in der Pflanze selbst manifest? Sie kann gleichzeitig weiße Blüten tragen und rote Früchte, Unschuld und Sinnlichkeit im selben Augenblick.

Ovid dichtet in seinen Metamorphosen gar über das Goldene Zeitalter:

mollia securae peragebant otia gentes.
ipsa quoque inmunis rastroque intacta nec ullis
saucia vomeribus per se dabat omnia tellus,
contentique cibis nullo cogente creatis
arbuteos fetus montanaque fraga legebant …

Ohne des Kriegers Bedarf die Tage den sicheren Völkern 
Undienstbar und verschont von dem Karst und von schneidender Pflugschar
Nimmer verletzt gab alles von selbst die gesegnete Erde,
Und mit Speisen zufrieden, die zwanglos waren gewachsen,
Lasen sie Arbutusfrucht, Erdbeeren an sonniger Halde …

Die Speise des Paradieses also. In der christlichen Symbolik wird daraus die Speise der Seligen.

Dahinter erkennen wir die Strategie der christlichen Ikonographen, die alten heidnischen Symbole umzudeuten, insbesondere der Symbole, die mit der großen Mutter in Verbindung gebracht werden. In dem dreigeteilten Blatt erkannten sie überdies die Dreieinigkeit. Und so taucht sie als eine der Lieblingspflanzen der Maler des Mittelalters in zahllosen Bildern auf, die von Maria, Jesus oder anderen Heiligen erzählen. Zusammen mit Veilchen und Maßliebchen verkörperten sie auch Demut und Bescheidenheit. Die Blüte hat fünf Blätter, wie die Rose, aber keine Dornen. Und die Frucht ist süß, braucht aber keine Schale. Sie sieht aus wie ein Tropfen des Blutes, das Christus für die Sünden der Menschheit vergoss. Ein Sinnbild für Tugend und Rechtschaffenheit demnach.

Gerade hinter der Doppeldeutigkeit der Erdbeere offenbart sich die uralte Bedeutung der Erdbeere als ursprünglich der großen Mutter heilige Pflanze.

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