Es geschah auf wundersame Weise an diesem Tage: Joachim umarmt seine Anna an der goldenen Pforte des Tempels in Jerusalem – und die bis dahin kinderlose Frau wird schwanger, ohne „Befleckung“. Neun Monate später, am 8. September, wird eine Tochter geboren. Es ist die spätere Mutter Gottes, die Jungfrau Maria.
Der verhohlene Frauentag
Auf der Grundlage dieser Legende wird jeden 8. Dezember Mariä unbefleckte Empfängnis gefeiert und sowohl der Muttergottes als Maria Immaculata gedacht als auch ihrer Mutter Anna. Dieser Tag gilt als der „verhohlene“ Frauentag, er verborgene Frauentag, im Gegensatz zum hohen Frauentag am 15. August. Früher arbeiteten Frauen an diesem Tag nicht, zogen sich zurück vom gesellschaftlichen Leben. Taten sie s doch, konnte es sein, dass ihnen die „weiße Frau“ erschien und sie ermahnte. Andernorts beginnt jedoch heute die Weihnachtsbäckerei, die bis zum nächsten Lostag, dem Luzientag, abgeschlossen sein sollte, denn dann begannen einer Überlieferung nach die so genannten Sperrnächte oder Dunkelnächte. In diesen den eigentlichen Raunächten vorgelagerten Nächten wurde symbolisch das alte Jahr „abgeschlossen“, damit es in den Raunächten ab dem 25. Dezember neu geboren werden kann. Für manche beginnen diese Sperrnächte sogar schon heute.
Die Großmutter – die große Mutter
Auch wenn dieser Tag der unbefleckten Empfängnis gewidmet ist, geht es im Kern um die Mutter Mariens, also die Großmutter von Jesus. Diese wird zwar nicht in den Evangelien der Bibel erwähnt, ist aber fest im Bewusstsein des katholischen Glaubens als heilige Anna verankert. Sie verkörpert daher mehr als einfach nur eine Gestalt der christlichen Legende. Sie ist die Personifikation eines wesentlich älteren Prinzip: das der aus sich selbst heraus schöpfenden Großen Mutter.
Ein Hinweis darauf gibt der Name: Anna. In vielen Sprachen wird mit Varianten dieses Namen – neben Mama – auf das mütterliche Prinzip hingewiesen. Viele Göttinnen tragen diese Silbe in ihrem Namen: die römische Di-Ana, die keltische Dana oder Anu, die summarische Inanna, die indische Ananta beispielsweise. In einigen Kulturen ist diese Silbe im Gegensatz zu Mama für die Großmutter reserviert. Großmutter, Große Mutter, Mutter aller Mütter.
Ahnung und Vertrauen
Auch in unserem Wort „Ahne“ und „Ahnung“ könnte diese Silbe stecken. Die Großmutter steht stellvertretend für alle Ahninnen, für den Schoß der Familie, aus dem wir kommen, wobei Familie nicht gleichbedeutend ist mit „Vater-Mutter-Kind“, sondern auf den größeren Hintergrund verweist, aus dem wir kommen, die Kette aller unserer Vorfahren, deren letztes Glied wir sind. Die „Ahnung“ passt gut in diese Zeit, denn da nun die Tage rasant kürzer werden und die Dunkelheit die Hoheit gewinnt, lässt sich vieles nur noch erahnen. Viele von uns fühlen nun den Impuls, sich immer mehr in sich selbst zu versenken, so wie sich die Natur zurückzieht und sich auf sich selbst besinnt. Das Leben schlummert nun unter der Oberfläche, ist nur noch Ahnung. Wir müssen in das Vertrauen gehen, dass es wiederkehren wird. Dieses Urvertrauen finden wir im mütterlichen Prinzip der Anna. Sie trägt uns in ihrem Schoß geborgen durch die dunkle Zeit, bis wir wiedergeboren werden.
So könnte dieser Tag für uns ein Tag des Innehaltens sein, an dem wir uns auf unsere Ahnen und Ahninnen besinnen, einfach in uns spüren – ahnen -, wie wir nicht die Ersten unserer Art sind, sondern in der langen Linie vieler Menschen stehen, die vor uns kamen und mit denen wir auf eine eigentümliche Weise verbunden sind, auch wenn sie schon lange nur noch Ahnungen sind.
In Bezug auf unser eigenes Leben könnten wir uns fragen:
- Was trage ich in mir, das geboren werden will im kommenden Jahr?
- Was brauche ich, um mich in diesen dunklen Stunden geborgen zu fühlen?
- Wie viel Gelegenheit gönne ich mir, mich auf mich selbst zu besinnen?